Nicht überall auf der Erde ist der materielle Besitz der Angehörigen einer Gesellschaft in der Weise maßgebend für den sozialen Status jedes Einzelnen, wie in unserer westlichen Zivilisation. Denjenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die viel besitzen, kommt in der Regel schon allein, weil sie mehr haben als andere, höhere soziale Anerkennung zu als denjenigen, die nicht so viel haben. Warum ist das so? Eine Erklärung dafür ist sicher, dass wir häufig, ohne dabei zu viel nachzudenken, bereits den bloßen Besitz von Sachen oder Geld mit einem übergeordneten Wert in Verbindung bringen – Erfolg.
Es gilt: Wer viel Erfolg hat, hat viel Anerkennung verdient. Und in unserer Gesellschaft gilt offenbar, wer viel besitzt, hat viel Erfolg. Aus dieser allgemeinen gesellschaftlichen Einstellung heraus betrachtet ist es wenig verwunderlich, dass sich gegen das Anhäufen von materiellem Reichtum einiger weniger Angehöriger der Gesellschaft so wenig Widerstand erhebt. Einigen unter uns kommt die eben angestellte Rechnung jedoch zu recht merkwürdig fehlerhaft vor. Denn es mag zwar sein, dass diejenigen, die viel besitzen oder die viel Geld haben und sich deswegen viel leisten können, als in gewissem Sinne erfolgreich zu betrachten sind. Doch warum sollte ihnen deswegen mehr gesellschaftliche Anerkennung zukommen, als anderen? Vielleicht weil wir insgeheim daran glauben, dass die Gesellschaft als ganze von denjenigen, die mehr besitzen, mehr profitiert als von denjenigen, die weniger haben. Aber stimmt das? Denn es stellt sich die Frage, warum dann durch die Anhäufung von Reichtum auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Menschen zunehmend in Armut leben müssen. Die Gesellschaft kann vom Reichtum Einzelner profitieren, aber sicher nicht durch das Horten von Reichtum.
Es hat den Anschein, als hätte die Gesellschaft am Ende überhaupt nichts davon, Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung derart naiv an Reichtum und Besitztum zu knüpfen. Ohne sich übermäßig anstrengen zu müssen, erscheint dieses Konzept gesellschaftlicher Verteilung von Anerkennung lückenhaft. Und es ist in der Welt nicht alternativlos.
Der Potlatch – Verausgabung als Gemeinschaftsprinzip
Der niederländische Kulturphilosoph und Historiker Johan Huizinga beschäftigt sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einer Kulturpraxis, die innerhalb der Kulturforschung gerne als Potlatch bezeichnet wird. Huizinga beschreibt den Potlatch als einen Wettkampf, der das gesellschaftliche Leben vieler Ureinwohner-Stämme in der Vergangenheit beherrscht hat. Der Potlatch ist eine durch strenge Rituale bestimmtes Fest, das Häuptlinge eines Stammes zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gelegenheiten ausgerichtet haben. Bei diesem Fest gibt derjenige Klan einer Gemeinschaft, deren Oberhaupt den Potlatch ausrichtet, einen großen Teil seines Besitzes in Form von Geschenken an einen anderen Klan ab. Huizinga schreibt, wo er sich auf die Praxis des Potlatch beim Stamm der ‚Kwakiutl‘, einem Stamm im nördlichen Küstengebiet des heutigen Vancouver Island, „Geburt, Heirat, Jungmännerweihe, Tod, Tätowierung, Aufrichtung eines Grabmals, alles gibt Anlass zu einem Potlatch.“[1] Die Anerkennung, die der Ausrichtende dadurch aus der Gesellschaft erntet, ist umso größer, je mehr er verschenkt. Die Festlichkeiten laufen unter allerlei musikalisch bestimmten Handlungen, heiligen Gesängen und Maskentänzen statt.
Doch als Wettkampf gebietet der Potlatch, dass der Beschenkte innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nach dem Fest selbst wieder einen Potlatch ausrichtet, bei dem wiederum er selbst nun eine andere Gruppe der Gemeinschaft beschenken muss. Der Witz des Spiels liegt dabei gewissermaßen darin, dass der vormals Beschenkte nun gesellschaftlich dazu verpflichtet ist, den Potlatch des anderen zu überbieten. Er muss also mehr verschenken, als er bekommen hat. Was bei logischer Überlegung auch irgendwie verständlich ist, da ja nun der Klan, der beschenkt wurde, zusätzlich zum eigenen Besitz auch noch die Güter des anderen hat und folglich mehr besitzen muss als dieser. Auf diese Weise wechseln Unmengen an Besitztümern innerhalb der Gemeinschaft laufend den Besitzer.
Das gesamte Zeremoniell findet im Geiste der Prahlerei und des Zeigens der eigenen Überlegenheit über den Beschenkten statt und besitzt einen im höchsten Sinne ernsten Charakter. Durch die Verausgabung des gesamten Besitzes eines Klans gibt man zu verstehen, dass man nicht an seinem Besitz hängt und auch gut ohne ihn auskommen kann. Dabei ist es in diesem Kulturspiel nicht unüblich, dass neben dem Verschenken von Besitztümern auch viele Güter vor den Augen der anderen schlicht zerstört werden. Denn auch die Verschwendung zeigt, dass man es sich leisten kann. Außerdem wird durch den Potlatch eine gegenseitige Haltung des Respekts aufrechterhalten. Dieser Geist wird auch außerhalb der rituellen Schenkungen durch allerlei Dienstleistungen der Angehörigen eines Klans gegenüber Angehörigen eines anderen Klans aufrechterhalten.
In manchen Gesellschaften von Eingeborenen wird der Potlatch bis heute als gemeinschaftsprägendes Element praktiziert.
Was können wir lernen?
Man sieht gerade beim zuletzt Gesagten, dass es Gemeinsamkeiten gibt zwischen der Potlatch-Kultur und unserer eigenen, was die Anerkennung der Verschwendung betrifft. Doch erreicht die Zerstörung, die mit der Verschwendung von Gütern in den großen Zivilisationen einhergeht, sicher ein Ausmaß, das es rechtfertigt, sie als unverträglich für die Weltgesellschaft einzustufen. Auch was den Besitz von Gütern angeht, gibt es Gemeinsamkeiten, dreht sich doch auch in den Kulturen, auf die hier Bezug genommen wurde, vieles um die Güter, die jemand hat. Wo liegt also der Unterschied?
Der Unterschied liegt wie so häufig in der Idee: Denn ganz im Gegensatz zu den Gepflogenheiten unserer Gesellschaft und eigentlich der großen Zivilisationen der Erde im Ganzen, ist es dort nicht der Besitz an sich, der Anerkennung hervorruft. Der Besitz ist lediglich Mittel und nicht Zweck an sich selbst. Denn erst dadurch, dass Besitz abgegeben wird, entsteht dem Besitzenden gesellschaftliche Anerkennung.
Sicher ist es nicht der richtige Weg, eine Empfehlung dahingehend auszusprechen, dass nun bei uns doch in Zukunft bitte jeder Vermögende sich ein Beispiel nehmen soll und sein gesamtes Vermögen abtreten. Dass es Reiche Menschen gibt, ist sicher auch nicht das Problem, das wir haben. Doch wenn wir alle, nicht nur die Reichen, von der Potlatch-Kultur etwas lernen können, dann ist es die Einstellung, materiellen Besitz nicht um seiner selbst Willen anzuhäufen und zu schätzen. Sondern um der Möglichkeit Willen, den anderen davon etwas abzugeben, die ja doch auch irgendwie für den eigenen Erfolg in der Gesellschaft mitverantwortlich sind. In dieser Einstellung entsteht nämlich, ebenso wie beim Potlatch, gesellschaftliche Anerkennung nicht aus dem materiellen Besitz selbst, sondern aus der Fähigkeit, andere Teilhaben zu lassen, die sich erst dort zeigt, wo auch abgegeben wird.
[1] Huizinga, Johan: Homo Ludens, 24. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1987, S. 70.