Identität ohne Übereinstimmung. Grundlagen und Auswirkungen des Gesellschaftscharakters
Der moderne Mensch strebt naturgemäß danach, sich als Individuum definieren und seine eigene, unverwechselbare Identität leben und ausdrücken zu können. In westlichen Gesellschaften der modernen Welt führt dieser rationale wie emotionale Anspruch in den meisten Fällen jedoch zum genauen Gegenteil. Die Entfremdung vom eigenen Ich, die notwendige Selbstvermarktung und daraus resultierend der Verlust der eigenen Identität prägen in der heutigen westlichen Welt das menschliche Dasein.
Der sogenannte Gesellschaftscharakter, ein von dem deutsch-amerikanischen Philosophen, Humanisten und Psychoanalytiker Erich Fromm geprägter Begriff, ist in diesem Kontext aktueller als je zuvor. Die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert von Fromm formulierte Theorie vom Menschen, dessen Verhalten von sozialen Strukturen maßgeblich beeinflusst wird, ist auf seine analytisch kritische Betrachtung der sich stets wandelnden Gesellschaft zurückzuführen.
Im heutigen spätkapitalistischen Wirtschaftssystem, das hauptsächlich von ökonomischen Werten, der Digitalisierung und damit verbunden der ständigen Inszenierung des Alltagslebens geprägt ist, stellt die menschliche Entfremdung als Folge des Gesellschaftscharakters eine zentrale soziologische Entwicklung dar. Der Gesellschaftscharakter nach Erich Fromm kann dadurch als dynamisches Konzept erachtet werden, das abhängig von der Entwicklung der Gesellschaft ständig neu reflektiert und interpretiert werden muss.
Von Marx und Freud zum Gesellschaftscharakter
Die Theorie vom Gesellschaftscharakter oder auch Sozialcharakter entstand durch Fromms intensive Auseinandersetzung mit den Lehren von Sigmund Freud und Karl Marx. Bereits bei Marx ist die Entfremdung des Menschen, der Verlust des eigenen Ichs, durch soziale Strukturen ein zentrales Thema. Marx führt die Entfremdung allerdings auf einen einzigen Faktor zurück: die industrialisierte Gesellschaft mit ihrem kapitalistischen System. Er stellt daher die wirtschaftlichen Grundstrukturen der Gesellschaft ins Zentrum seiner Theorie. Der ausgebeutete Arbeiter, der lediglich als Objekt existiert, könnte Marx zufolge durch einen ökonomischen Wandel eine produktive Rolle als Subjekt annehmen. Wird der Arbeiter zum Besitzer, entkommt er der Entfremdung und definiert seine eigene Identität.
Erich Fromm baut mit seiner Formulierung des Gesellschaftscharakters auf den Thesen von Karl Marx auf. Obwohl Grundzüge von dessen Überlegungen in Fromms psychoanalytischer Theorie durchaus erhalten bleiben, stellt er sich kritisch gegen die monokausalen Einflüsse der menschlichen Entfremdung, die bei Marx lediglich als ökonomische Faktoren Bedeutung haben. Der Gesellschaftscharakter nach Erich Fromm hingegen definiert zusätzlich zu ökonomischen auch religiöse, politische, kulturelle und technologische Einflüsse und Veränderungen als bedeutende Rahmenbedingungen für die charakterlichen Ausprägungen des Menschen.
Fromm entwickelt bei der Frage nach Orientierungen und Charakterzügen des Menschen auch die Thesen von Sigmund Freud weiter. Dabei grenzt sich Fromm deutlich von der Triebtheorie Freuds ab, die das Physiologische, genauer gesagt das triebhafte Sexuelle, ins Zentrum der menschlichen Charakterstruktur stellt. Für Fromm gilt, dass längst nicht nur die Physiologie, sondern der gesamte Prozess des Lebens im historischen Kontext die psychische Anlage jedes Menschen definiert. Aus Fromms Auseinandersetzung mit Marx und Freud geht der Gesellschaftscharakter hervor, also jener Mensch, der durch ein Zusammenspiel aller Teilaspekte seiner Umwelt regelrecht modifiziert wird.
Der Mensch als Spiegelbild seiner Gesellschaft
Der Charakter eines Menschen definiert sich nach Erich Fromm in erster Linie durch die Wechselwirkung zwischen dem menschlichen Individuum und der Gesellschaft. Beide Seiten dieses dynamischen Verhältnisses sind in sich geschlossene Systeme, die sich gegenseitig prägen. Das Verhalten und die Eigenschaften eines Menschen werden nach Fromm grundsätzlich von Trieben bestimmt, die sich hauptsächlich durch Sozialisierungsprozesse in der Kindheit herausbilden. In diesem Kontext spielt die Familie für den Gesellschaftscharakter eine wesentliche Rolle. Die Struktur, Dynamik und sozialen Züge einer Familie entwickeln sich aufgrund der Anforderungen der Gesellschaft, die sie zu einem bestimmten Maß an Anpassung zwingt.
Neben den familiären und dadurch auch indirekt gesellschaftlichen Einflüssen auf die charakterliche Anlage eines Menschen spielen ab einem gewissen Zeitpunkt der Kindheit und auch im Erwachsenenleben zwei weitere Faktoren eine wesentliche Rolle: das Schulsystem und später die Arbeitswelt. Diese erfordern eine weitere und meist noch stärkere Anpassung jedes menschlichen Individuums an die gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Der Einzelne wird dadurch allmählich zum Spiegelbild seiner Gesellschaft, die ihrerseits ihr Überleben durch genau diese Anpassung sicherstellt. Fromms Begriff des Gesellschaftscharakters bedeutet also: Das Fortbestehen jeder Gesellschaft hängt maßgeblich davon ab, wie der gemeinsame Charakter aller Mitglieder geformt und deren Energien kanalisiert werden.
Das leidenschaftliche Streben des Individuums, das durch die Strukturen der Gesellschaft maßgeblich beeinflusst wird, erfährt bei Fromm eine Unterteilung in zwei Ausprägungen. Die produktiven Strebungen sind alle Handlungen, Denkweisen und Emotionen, die der Mensch auf seinen individuellen Kräften aufbaut. Die nicht-produktiven oder entfremdeten Strebungen entstehen, wenn Menschen ihre individuellen Kräfte projizieren, verleugnen oder durch äußere Einflüsse ersetzen. Dieses Verhalten kann sich auf mehreren Ebenen manifestieren. In zwischenmenschlichen Beziehungen prägen sie entweder einen liebevollen und respektvollen Umgang oder ein destruktives Verhalten. Das Aneignen von Besitztümern und Gütern kann entweder durch produktive und kreative Tätigkeiten oder nicht-produktiv durch passives Empfangen oder Diebstahl geprägt sein.
Der Gesellschaftscharakter und sein Einfluss auf das Individuum
Fromm hat erkannt, dass die Entfremdung des Menschen dadurch entsteht, dass einmal ausgebildete Charakterstrukturen dem historischen Wandel sehr lange widerstehen. Dies erklärt, warum sich nicht-produktive Prozesse und Handlungsweisen in der Gesellschaft in der Regel sehr hartnäckig halten. Unabhängig davon, ob Menschen überwiegend produktiv oder nicht-produktiv handeln und denken, der Gesellschaftscharakter zwingt sie in nahezu allen Lebenssituationen dazu, mit vermeintlicher Überzeugung und Lust all das zu tun, was den Fortbestand der gesellschaftlichen Strukturen sichert. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum sich autoritäre politische Systeme oft viele Jahre oder Jahrzehnte lang halten, obwohl deren negative Auswirkungen für jeden Einzelnen deutlich spürbar sind. Immer dort, wo ein politisches oder sozialökonomisches System sich letztlich doch ändert, hat sich in der Umbruchphase ein neuer Gesellschaftscharakter herausgebildet.
Der Gesellschaftscharakter in der modernen Welt
Wenn der Gesellschaftscharakter das Individuum ständig dazu drängt, bestimmte Verhaltensmuster anzunehmen, ist eine Entfremdung vom eigenen Ich praktisch vorprogrammiert, unabhängig davon, wie die gesellschaftlichen Strukturen ausgeprägt sind. Der Mensch muss sich einem vorgegebenen Sozialgefüge anpassen, sich einordnen, um den jeweiligen Gesellschaftscharakter zu stabilisieren. Er wird dadurch zu einem Medium, dessen Verhalten nur mehr geringfügig von bewussten und eigenmächtigen Entscheidungen geprägt ist. Dabei muss das Individuum immer so handeln, denken und fühlen wollen, wie es soll.
Die Problematik des Gesellschaftscharakters besteht daher vor allem darin, dass der Mensch praktisch gezwungen ist, immer Genugtuung dabei zu empfinden, wenn er sich gemäß der neuesten kulturellen Errungenschaften verhält. Einfach gesagt: historische Rahmenbedingungen formen die seelischen Grundlagen, das Handeln und die persönliche Entwicklung eines Menschen, ohne dass dessen eigentliche Identität dabei eine wesentliche Rolle spielt.
Gerade in Zusammenhang mit der postmodernen Gesellschaft besitzt Fromms Theorie vom menschlichen Gemeinschaftscharakter eine besondere Bedeutung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte der Umbruch zum Wirtschaftswunder in der westlichen Welt auch zur Formung eines völlig neuen Gesellschaftscharakters, der das menschliche Dasein bis heute maßgeblich bestimmt. Mit der Marketing-Orientierung, die in den Fünfzigerjahren für Fromm zu einem wichtigen wissenschaftlichen Gegenstand wurde, wich die gesellschaftliche Wechselwirkung zwischen Dominanz und Unterwerfung allmählich jener zwischen Verkäufer und Konsument. Dieses Verhältnis nimmt bis heute kontinuierlich immer extremere Formen an. Dies ist vor allem auf die digitale Revolution zurückzuführen, die innerhalb des Marketing-Prinzips auch eine neue Orientierung des Gesellschaftscharakters mit sich brachte.
Das normale menschliche Verhalten ist heute durch die Inszenierung des Lebens in der virtuellen Welt bestimmt. Der Gesellschaftscharakter ist im privaten und beruflichen Umfeld von einer teilweise kommerziellen Beziehung zwischen den Schöpfern und Konsumenten inszenierter Lebenswelten geprägt. Die Massenmedien brachten in den letzten Jahrzehnten einen überwiegend narzisstischen Gesellschaftscharakter mit sich, der die Vermarktung des Ichs ins Zentrum des menschlichen Daseins gerückt hat. Seine Auswirkungen auf das Individuum reichen von eingeschränkter bis gestörter Bindungsfähigkeit bis zu regressiven Kommunikationsmustern.
Durch die Anonymität von Autoritäten wie Trends, öffentlichen Meinungen sowie medialen Kampagnen findet eine zusätzliche Entfremdung des Menschen von seinen eigenen Sichtweisen, Instinkten und Empfindungen statt. Der Gesellschaftscharakter glaubt, weiß und fühlt, was die Medien definieren. Dadurch werden die gemeinsamen Charakterzüge innerhalb der Gesellschaft zu einer erheblichen Gefahr für die persönliche Freiheit des Individuums – ohne dass dieses sich dieser Tatsache wirklich bewusst ist.
Fromms Gesellschaftscharakter ist nicht nur als Theorie bedeutsam, sondern besitzt bis heute in höchstem Maße eine praktische Anwendbarkeit, wenn es um die Deutung und Analyse sozialer Strukturen und deren Entwicklung geht. Der Gesellschaftscharakter kann ein soziales Gefüge wie Zement zusammenhalten und dessen Fortbestand sichern. In der postmodernen, von digitalen Medien dominierten und definierten Welt muss er jedoch zunehmend als Angriff auf die Kreativität und Spontanität des einzelnen Menschen gewertet werden. In diesem Zusammenhang steht der Gesellschaftscharakter in krassem Widerspruch zur Identität. Der Mensch stimmt nicht mehr mit dem überein, was ihn ausmacht. Er ist vielmehr eine Projektionsfläche, auf der verschiedene gesellschaftliche Einflüsse ein Gesamtbild erzeugen. Auf diesem Bild lässt sich der Grad der menschlichen Entfremdung ebenso deutlich ablesen wie die Beständigkeit des Sozialgefüges, in der die Entfremdung stattfindet.
Fromms Theorie ist daher ein soziologisches Konzept, das das „normale“ Verhalten des Menschen in jedem Zusammenhang kritisch hinterfragen lässt. Es kann in jeder geschichtlichen Phase neu geschrieben werden und auch in Zukunft als wertvolles Instrument für die Analyse des gesellschaftlichen Miteinanders dienen.