Äußerer Glanz und innere Leere. Die Persönlichkeitsstruktur von Erich Fromms Marketing-Charakter
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte mit dem zunehmenden Wohlstand der westlichen Welt und der kapitalistisch geprägten Weltwirtschaft eine stetig wachsende Konsumgesellschaft hervor. Diese lässt sich heute durch die Ideale der Werbung so weit beeinflussen, dass selbst das häusliche Glück und ein zufriedenstellendes Privatleben für viele Menschen nur durch den Besitz bestimmter Waren und Güter definiert werden können, die ihren sozialen Status untermauern. Die Marketing-Strategien der kapitalistischen Konzerne werden seit Jahrzehnten immer aggressiver und unterminieren auf stark psychologisierende Weise die eigentlichen Bedürfnisse der Menschen, indem sie ihre tiefsten Empfindungen manipulieren.
In einer modernen Welt, in der die in allen Medien präsente Werbung sämtliche Gebrauchsartikel personifiziert und mit bestimmten Emotionen besetzt, findet zwangsläufig eine Entfremdung des Menschen von seinen eigentlichen Empfindungen statt. Der humanistisch geprägte Philosoph, Sozialpsychologe und Gesellschaftskritiker Erich Fromm beobachtete diese Tendenzen schon in den Fünfzigerjahren und beschrieb deren Auswirkungen auf das menschliche Individuum durch den sogenannten Marketing-Charakter, einen sozialen Typus, auf dessen Lebensgestaltung sich die Motive von Inszenierung, Künstlichkeit, Image und Verpackung direkt übertragen lassen.
Der Marketing-Charakter und die gefährliche Konformität
Ausgehend von den Entwicklungen der modernen Wohlstandsgesellschaft beschrieb Erich Fromm mit dem Marketing-Charakter einen Menschentypus, der der Welt der Vermarktung zum Opfer fällt, ohne dass es ihm selbst bewusst ist. Das Grundmerkmal eines solchen Menschen liegt in der Neigung, seinen Selbstwert ausschließlich durch die Meinung seines Umfeldes zu definieren. Der Marketing-Charakter trägt buchstäblich seine Persönlichkeit zu Markte, indem er sie als Ware anbietet und sie nach der bestehenden Nachfrage formt und inszeniert. Er kleidet sich nach der bestehenden Mode, umgibt sich mit den Dingen, die in der Werbung als begehrenswert angepriesen werden, und geht menschliche Beziehungen ausschließlich im Hinblick auf deren Funktionalität ein.
Der Marketing-Charakter sieht sich unbewusst als leere Leinwand, auf die sämtliche Erwartungen seines Umfeldes sowie öffentliche Meinungen und Wertebegriffe projiziert werden. Dadurch kommt es zu einer Verdrehung seiner eigenen Persönlichkeit, die nicht mehr nach dem Grundsatz des „Ich bin, wer ich bin“ existiert, sondern sich nach dem Leitmotiv „Ich bin genau so, wie du mich haben willst“ orientiert. Damit schafft er von sich selbst ein rein nach sozialökonomischen Gesichtspunkten beurteilbares Abbild und in weiterer Folge eine Abstraktion seines eigenen Ichs.
Kurz gesagt verfolgt Fromms Marketing-Charakter kein anderes Ziel als den bestmöglichen und erfolgreichsten Verkauf seiner eigenen Person in unterschiedlichen Lebensbereichen. Um dies umzusetzen, ist ihm jedes Mittel recht. Selbstinszenierung, das bis ins kleinste Detail passende Outfit, ein gekünsteltes Verhalten und ein bewusst gewähltes Milieu, in dem er sich bewegt, sind die Grundmotivationen seiner Existenz.
Selbstvermarktung und die leere Seele
Erich Fromm stellt seinen Marketing-Charakter des 20. Jahrhunderts in einen starken Gegensatz zum Menschen des 19. Jahrhunderts, der trotz aufkommender Industrialisierung und zunehmendem Konsumwahn seine Persönlichkeit wahrte, die ihm als stabile Basis im Leben diente und in ihren Grundfesten nicht erschüttert werden konnte. Der Marketing-Charakter als Folge des Kapitalismus erscheint hingegen als „Fähnchen im Wind“, da seine Selbstvermarktung nach außen eine Verkümmerung seines Innenlebens bedingt und sein Selbstwertgefühl ständig von den Ansichten seiner Mitmenschen abhängig ist. Er ist kein Individuum mit Geist und Emotionen mehr, sondern eine Ware mit Ablaufdatum, aber ohne Potenzial und Lebenssinn.
Der Leitgedanke „Ich bin genau so, wie du mich haben willst“ dringt in keinem Lebensbereich so stark in den Vordergrund wie in der modernen Arbeitswelt. Hier erfährt der von Fromm definierte Marketing-Charakter seine volle Gültigkeit, denn auf dem Arbeitsmarkt muss tatsächlich jeder Arbeitswillige wortwörtlich seine Person zu Markte tragen. Hier besitzt der Mensch als Ware einen Tauschwert, hier muss er seine Persönlichkeit stets an die bestehende Nachfrage der jeweiligen Berufssparte anpassen.
Der Marketing-Charakter der modernen Arbeitswelt hat nur dann Erfolg, wenn er zur absoluten Unterordnung seines Ichs bereit ist. Er ist gezwungen, sein Verhalten, seine Sprache, seine Kleidung und in vielen Fällen sein Privatleben an die Anforderungen seines Arbeitgebers anzupassen, um als menschliche Ware nicht an Wert und Marktpräsenz zu verlieren. Dadurch ist der Marketing-Charakter vor allem durch den Verlust der eigenen Identität gekennzeichnet, die ihn zu einem emotional gleichgültigen, innerlich verkümmerten und beliebigen Wesen degradiert, das ausschließlich dem wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens dienen soll.
Beziehungen als Accessoires
Seinen absoluten Willen zu Konformität überträgt der Marketing-Charakter nach Fromms Theorie auch auf sein privates Umfeld. Wenn Image, Verpackung und Inszenierung des eigenen Ichs im Leben eines Menschen oberste Priorität besitzen, sind auch seine zwischenmenschlichen Beziehungen verkäufliche Waren. Wer sein Ich verloren hat, kann auch dem Du nicht die Hand reichen. Der Marketing-Charakter sieht sich daher auf dem „Persönlichkeitsmarkt“ um und wählt seine potenziellen Partner und Freunde ebenfalls danach aus, wie sein Umfeld darauf reagieren wird. Wie das schicke Auto, die teure Uhr und die berufliche Position, die sein Selbstwertgefühl stützen, sieht er auch Liebespartner und Freundschaften als Waren mit Tauschwert. Laut Fromm sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Marketing-Charakter führt, nach den Gesichtspunkten der Marktwirtschaft funktionierende Verbindungen, die durch innere Lebenslosigkeit gekennzeichnet sind.
Marketing-Charakter oder Narziss?
Die moderne Gesellschaft bringt seit etlichen Jahrzehnten unzählige menschliche Individuen hervor, die durch ihren Mangel an sozialer Intelligenz, Emotionslosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltgeschehen und den nachfolgenden Generationen tatsächlich dem Typus von Fromms Marketing-Charakter entsprechen. Viele Menschen kompensieren Bindungslosigkeit, innere Leere und Mangel an menschlicher Nähe heute mit übertriebenem Konsumverhalten und einem auffallenden Hang zur Selbstinszenierung. Dennoch hängt es stark von der individuellen Persönlichkeit eines Menschen ab, ob er bereit ist, als systemkonformes Wesen auf jegliche Individualität zu verzichten und sich im beruflichen und privaten Alltag von seinem eigenen Ich soweit zu entfremden, dass seine Empfindungen gänzlich verkümmern.
Auch wenn Fromms Marketing-Charakter in Ansätzen in der modernen Arbeitswelt sogar eine Technik des Überlebens bedeutet, sind übertriebene Eitelkeit, Statusdenken, Selbstinszenierung, Image und bewusste Wahl und Manipulation menschlicher Kontakte eher solchen Charakteren zuzuordnen, die aus unterschiedlichen Gründen unter einem mangelnden Selbstwertgefühl oder unter einer Störung leiden, die in der Psychopathologie als Narzissmus bezeichnet wird. In diesem Sinne kann Erich Fromms Marketing-Charakter nicht nur als sozialer Typus, sondern auch einfach als Mangel an charakterlicher Stärke gesehen werden.