Minderwertigkeitsgefühle: die gestörte Beziehung zum eigenen Ich

    Minderwertigkeitsgefühle beschreiben einen Zustand der Seele, der durch die ständige bewusste oder unterbewusste Sorge geprägt ist, als Mensch und handelndes Wesen unvollkommen oder nicht genügend zu sein. Die Begriffe „Minderwertigkeitsgefühl“ und „Minderwertigkeitskomplex“ gehen auf den österreichischen Arzt und Tiefenpsychologen Alfred Adler zurück, der im frühen 20. Jahrhundert das Konzept der sogenannten Individualpsychologie prägte.

    In seiner im Jahr 1912 erschienen Publikation „Über den Nervösen Charakter“ beschrieb Adler die ständige Wechselwirkung zwischen dem menschlichen Streben nach unterschiedlichen Zielen und dem Gefühl, diese nicht hundertprozentig erreichen zu können und dadurch unvollkommen zu sein. Minderwertigkeitsgefühle können unterschiedliche Ursachen haben und sich als generelles mangelndes Selbstvertrauen ebenso manifestieren wie als totale Selbstablehnung, Soziophobie oder schwere Depression.

    Mögliche Ursachen für die Entstehung von Minderwertigkeitsgefühlen

    Minderwertigkeitsgefühle oder eine geringe Selbsteinschätzung sind keineswegs angeborene Charaktereigenschaften, sondern werden im Laufe des Lebens durch äußere Faktoren erworben beziehungsweise durch bestimmte Erfahrungen entwickelt. Schon Alfred Adler nannte als wahrscheinlichste Ursachen von Minderwertigkeitskomplexen negative Erlebnisse in der frühen Kindheit, die einen Menschen dazu bringen, von sich selbst geringschätzig zu denken. Menschen, die in ihrer Kindheit mit problematischen Familienverhältnissen konfrontiert waren, sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, in späteren Lebensjahren Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln.

    Kinder halten in den ersten sieben bis zehn Jahren naturgemäß alles, was die Eltern sagen oder tun, für richtig und wahr. Sämtliche Handlungen von Mutter, Vater oder anderen Erziehungsberechtigten werden grundsätzlich nicht infrage gestellt. Dies bedeutet, dass die Intuition und die Wahrnehmung der Umwelt und des eigenen Ichs eines Menschen vor allem durch das Verhalten und die Meinungen der Eltern maßgeblich und nachhaltig geprägt werden. Erleben Kinder in dieser frühen und äußerst sensiblen Lebensphase wiederholt Enttäuschungen, Bestrafungen oder ablehnendes emotionales Verhalten vonseiten ihrer engsten Bezugspersonen, reagieren sie darauf naturgemäß mit einer Verinnerlichung jener Worte und Taten, die damit verbunden waren.

    Um die Zuneigung der Eltern dennoch aufrechtzuerhalten und weiterem Liebesentzug zu entgehen, beginnen betroffene Kinder oft damit, sich mit den vermeintlichen eigenen Schwächen intensiv auseinanderzusetzen und diese ständig zu kritisieren. Problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die Beurteilung in Bezug auf die eigene Person in der Kindheit noch nicht auf rational erlebten Erfahrungen basiert, sondern einzig und allein auf den Meinungen der Eltern. Sprechen diese ständig Kritik und Beleidigungen aus, übernimmt das Kind diese irgendwann und wächst oft mit ihnen heran, ohne sie jemals auf ihren Wahrheitsgehalt rational analysiert zu haben. Auch Beleidigungen und Mobbing durch Mitschüler, Freunde oder Lehrer im Kindes- und Teenageralter können sich aus diesem Grund in späteren Jahren einen Minderwertigkeitskomplex zur Folge haben.

    Symptome und Folgen von Minderwertigkeitskomplexen

    Wenn jemand als Kind durch die Kritik der engsten Bezugspersonen gelernt hat, nicht intelligent, leistungsfähig, gut aussehend oder aus verschiedenen Gründen nicht liebenswert genug zu sein, kann sich dies im Erwachsenenalter als Selbstablehnung manifestieren. Dabei handelt es sich schlicht und ergreifend um eine falsche, von außen beeinflusste Selbstentwertung, als deren Folge sich eine gestörte Beziehung zum eigenen Ich entwickelt. Menschen, die unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden, leben in ständiger Angst, ihren Mitmenschen nicht zu genügen und die von ihnen erwarteten Leistungen im privaten und beruflichen Umfeld nicht in ausreichendem Maße erbringen zu können.

    Bis zu einem gewissen Grad ist mangelndes Selbstvertrauen in herausfordernden Lebenssituationen nichts Ungewöhnliches und ein durchaus menschliches und nachvollziehbares Gefühl. Viele Menschen kennen die Sorgen, in der Ausbildung, einem neuen beruflichen Umfeld oder in einer verantwortungsvollen Rolle bestimmte Aufgaben nicht zur vollsten Zufriedenheit erfüllen zu können. Ein Minderwertigkeitskomplex ist jedoch damit verbunden, an sich selbst ständig Fehler und Makel zu sehen, die in den meisten Fällen gar nicht oder nicht in dem subjektiv wahrgenommenen Ausmaß existieren.

    Die meisten Betroffenen können Lob, Anerkennung, Komplimente und Zuneigung vonseiten ihrer Mitmenschen nicht annehmen und suchen stattdessen stets fieberhaft nach möglichen Hintergedanken. Erfolg wird nicht als solcher empfunden, sondern meist als glücklicher Zufall abgetan. Mangelndes Selbstvertrauen führt auch dazu, dass ein nicht zu leugnender Erfolg nicht gefeiert oder genossen werden kann, sondern sofort neue, mitunter unrealistische Ziele gesteckt werden.

    Absichtlich gewählte unerreichbare Herausforderungen bieten Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen die ideale Gelegenheit, den zu erwartenden Misserfolg mit der eigenen Unfähigkeit erklären zu können. Überhaupt müssen Menschen, deren Leben von Minderwertigkeitsgefühlen geprägt ist, ständig ihre eigenen Unzulänglichkeiten betonen, egal, ob es sich dabei um fehlende Talente oder körperliche Makel handelt. Oft kommt es zur regelrechten Besessenheit, denn einmal entdeckte Fehler bestimmen bei vielen Betroffenen den gesamten Lebensalltag.

    Minderwertigkeitsgefühle und das Sozialleben

    Mangelndes Selbstvertrauen und ein geringes Selbstwertgefühl wirken sich auf zwischenmenschliche Beziehungen jeder Art äußerst negativ aus. Menschen, die unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden, neigen dazu, schon bei der geringsten Kritik gekränkt zu reagieren, was eine ehrliche Kommunikation im privaten und beruflichen Umfeld praktisch unmöglich macht. Betroffene können jedoch auch ehrliche Zuneigung oft nicht als solche empfinden, worunter Liebesbeziehungen ebenso leiden wie der familiäre Zusammenhalt.

    Die permanente Angst davor, abgelehnt zu werden, bedingt im Extremfall eine soziale Phobie, die zu Isolation, Einsamkeit und schwersten Depressionen führen kann. Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen fühlen sich ständig und vollkommen grundlos als Versager, wodurch schon kleinste Alltagstätigkeiten zum großen Diskussionspunkt werden können. Wenn dadurch das Interesse an neuen Aufgaben oder Tätigkeiten beeinträchtig ist, wird auch das Ergreifen eines Hobbys unmöglich. Dadurch sind viele Betroffene in einem Lebensalltag gefangen, in dem Monotonie, Langeweile und eine negative Grundhaltung allem und jedem gegenüber dominieren.

    Die Folgen sind oft die Flucht in oberflächliche Statussymbole, Alkohol- oder Drogenmissbrauch und ständig wechselnde und immer gleichermaßen frustrierende Liebesbeziehungen. Viele Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen versuchen auch, ihre Schwächen mit Arroganz, Unnahbarkeit oder einem generell ablehnenden und aggressiven Verhalten zu kompensieren.

    Wege aus der gestörten Ich-Beziehung

    Wer ständig das Gefühl hat, unvollkommen, unzureichend oder fehlerhaft zu sein, sollte zunächst versuchen, Folgendes zu verinnerlichen: es gibt keine makellosen oder minderwertigen Menschen, sondern nur Stärken und Schwächen. Ausnahmslos jeder Mensch besitzt auf der einen Seite besondere Talente und macht auf der anderen Seite Fehler. Genauso wie Talente von den Mitmenschen respektiert und als solche wertgeschätzt werden, so werden auch Fehler verziehen und vergessen. Das bewusste Verzeihen der eigenen Schwächen ist jedoch der wichtigste Schritt auf dem Weg aus der Selbstablehnung.

    Wer unter Minderwertigkeitsgefühlen leidet, sollte sich jeden Abend die Zeit nehmen, die eigenen tagsüber erbrachten Leistungen zu erkennen und zu würdigen. Gleichzeitig ist es wichtig, das Streben nach ständigem Erfolg und Perfektion aufzugeben und als unrealistisch und überflüssig zu erkennen. Oft kann es helfen, ein Tagebuch anzulegen, in dem neben der Kritik auch Lob und Komplimente von Mitmenschen notiert werden. Dies verlagert die Aufmerksamkeit weg vom inneren Kritiker hin zur eigentlichen Beziehung mit dem sozialen Umfeld.

    In schweren Fällen sollte eine Gesprächstherapie in Erwägung gezogen werden, um den Ursachen der Minderwertigkeitsgefühle auf den Grund zu gehen und die in der Kindheit und Jugendzeit prägenden Beziehungen zu analysieren. Dadurch können die moralischen Vorstellungen der Eltern, Lehrer und anderer Personen, durch die es möglicherweise zu den tiefen Kränkungen und Enttäuschungen kam, erstmals in einem kritischen Licht betrachtet und dadurch deren Wahrheitsgehalt in Frage gestellt werden. Dies ebnet letztendlich den Weg zu einer realistischen und erwachsenen Selbstbeziehung, die gänzlich ohne negative äußere Einflüsse und auf gesunde Weise reifen und wachsen kann.

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