Jeder von uns bringt als Individuum eine einzigartige Kombination von Eigenschaften und Fähigkeiten mit sich. Trotzdem verlassen wir uns häufig auf das Urteil und die Ratschläge anderer. Da diese jedoch auf Grundlage ihrer eigenen Bedürfnisse und Lebensvorstellungen bewerten und beraten, stimmt dies oft nicht mit dem überein, was wir selbst brauchen. Folglich fördert unser soziales Umfeld gewöhnlich nur einen Teil unserer Ich-Ressourcen, während andere Persönlichkeitsaspekte ein Schattendasein führen. In jedem von uns schlummern darum verborgene Potenziale, die nur darauf warten entdeckt zu werden.
Einflüsse von Erziehung
Um mehr über unser wahres Ich herauszufinden, müssen wir zwischen dem unterscheiden, was wir als „richtig“ gelernt haben, ohne dass wir gefühlsmäßig dazu hingezogen sind, und dem, was wir für unser Leben als wichtig fühlen. Gerade wenn die Aufgabe solcher für das eigene Ich als problematisch identifizierter Lerninhalte auch unser Verhalten gegenüber unseren Lieben betrifft, muss oft zuerst die Vorstellung überwunden werden, dass Liebe und Loyalität automatisch das aufopfernde Erfüllen von Bitten und Ansprüchen bedeutet. Dabei hilft vielleicht die Überlegung, dass es keineswegs im Interesse unserer Lieben sein kann, wenn wir bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse über unsere eigenen körperlichen und seelischen Grenzen gehen.
Um zu verstehen, wie unterschiedlich Menschen oft trotz derselben Kultur und Familie die Umwelt wahrnehmen und interpretieren, lohnt sich eine nähere Beschäftigung mit den Persönlichkeitstypologien basierend auf Carl G. Jung. Inwiefern bei der Entwicklung der Persönlichkeitstypen genetische Faktoren eine Rolle spielen, ist noch nicht abschließend geklärt. Eines aber ist sicher: Ein Blick auf die eigene Familie zeigt bereits, dass nicht alle Mitglieder stets in ihren Wahrnehmungen, Interpretationen, Lebensvorstellungen und persönlichen Fähigkeiten übereinstimmen.
Wiederentdeckung des Ich startet im Alltag
Wer auf Entdeckungsreise zum eigenen Ich gehen möchte, muss dafür glücklicherweise weder ein Sabbatical einlegen noch auf einen Retreat gehen. Die Suche kann sofort und ohne weitere Umstände hier im Alltag beginnen. Dabei gibt es unterschiedliche Wege. Eine Möglichkeit ist der Blick in die frühe Vergangenheit, als man sich als Kind noch vermehrt intuitiv verhalten hatte. Hier führen Fragen weiter wie: Wo waren meine Lieblingsorte? Was waren meine Lieblingsspiele? War ich lieber für mich allein oder im Getümmel? Diese Fragen sind nur einige Anhaltspunkte, denn jedem werden andere Fragen kommen, die für einen bedeutsam sind.
Neben dem Blick in die Vergangenheit führt auch eine Beleuchtung der Gegenwart weiter. Ehrliche Antworten auf die Fragen – In welchen Momenten fühle ich mich wirklich wohl? Was ist mir in einem Gespräch wichtig? Welche Eigenschaften soll mein Partner an mir schätzen? – führen näher an die tatsächlichen Bedürfnisse und Lebensprioritäten heran. Hilfreiche Fragen für die Beleuchtung des Berufslebens können sein: Arbeite ich lieber im Team, selbstständig oder allein? Gehe ich an Probleme lieber intuitiv-kreativ heran oder rational-strukturiert? Ist mir Harmonie wichtiger oder die exakte Umsetzung meiner Vorstellungen?
Die Entdeckungsreise muss jedoch nicht zwangsläufig nur über die reale Welt erfolgen. Wie Ergebnisse der Lesepsychologie nahelegen, geben auch die fiktionalen Geschichten und Charaktere, mit denen wir uns verbunden fühlen, Aufschluss über unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Faszinationen. Wo auch immer die Suche nach dem eigenen Ich stattfindet, der Schlüssel ist stets das Stellen weiterführender Fragen und die gefühlsmäßig ehrliche Beantwortung dieser. Ein Aufschreiben der neuen Erkenntnisse über das eigene Ich nach jeder Entdeckungstour vermeidet schließlich, dass diese im Alltagstrubel wieder in Vergessenheit geraten.
Mit Gefühl, Verstand und Intuition – Die Kombi macht’s
Sollte nun, durch neue Erkenntnisse über das eigene Ich, das allzu menschliche Gefühl aufkommen, alles am liebsten sofort und radikal ändern zu wollen, ist es Zeit einen Moment innezuhalten. Sicherlich hat jeder schon die Erfahrung gemacht, dass nach dem ersten Gefühlsimpuls handeln keineswegs das gewünschte Ergebnis bringt, eher im Gegenteil. Für die Entscheidung über Veränderungen ist es zielführender sich auf die gesamte Gefühl-Verstand-Intuition-Combo des eigenen Ich zu verlassen. Dies gilt auch für die Bewertung der Ratschläge anderer. Denn am Ende müssen wir allein mit der Entscheidung leben. Und nur das eigene Ich kann wissen, welches Leben zu uns passt und uns wahrhaft glücklich macht.
Alles Gute und viel Freude bei der (Wieder-)Entdeckung des Ich!
Antonia
Ein Beitrag von Antonia Löschner
Wer Lust hat, zusammen mit diversen, doch durchwegs freundlich gesinnten fiktionalen Charakteren auf Entdeckungsreise zum Ich im Alltag zu gehen, findet eine Gelegenheit dazu in dem Taschenbuch „Alltagsperlen: Kurzgeschichten und Gedichte“ (tredition, 2016).
Über Antonia Löschner:
Dr. Antonia Löschner ist als Ethnologin und ausgebildete Mediatorin in der internationalen Beratung bei Lebensumbrüchen und Konflikten unter dem Namen „Life-Transition Counseling“ tätig. Der Schwerpunkt ihrer Beratung liegt auf der Unterstützung bei der (Wieder-)Entdeckung und Nutzung persönlicher Stärken.