Der Individualismus – vom freien Denken zur pseudoindividuellen Selbstinszenierung

    Der Begriff Individualismus beschreibt eine Lebensauffassung, die den einzelnen Menschen über die Gesellschaft oder das politische System stellt, in dem er lebt. Der Mensch wird in seiner Einzigartigkeit, seiner unverwechselbaren Identität wahrgenommen und soll sich dieser entsprechend entfalten können. Die Gemeinschaft wird diesem Standpunkt zufolge als Rahmenbedingung definiert, innerhalb derer die individuelle Freiheit jedes Einzelnen den größten Stellenwert besitzt.

    Der Individualismus kann auch als Weg eines Menschen in sein Inneres betrachtet werden. Die innere, also die von individuellen Erfahrungen, Emotionen und Intuition geprägte Wirklichkeit spielt im Vergleich zur äußeren Realität der Gesellschaft oder des politischen Systems eine übergeordnete Rolle.

    Als philosophischer Standpunkt blickt der Individualismus auf eine lange Tradition zurück und ebnete auf vielen Ebenen den Weg in eine moderne gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung. In der heutigen Zeit allerdings sieht sich der Mensch gefangen zwischen dem Streben nach Individualität und der Notwendigkeit, sich anzupassen, um beruflich und gesellschaftlich anerkannt zu sein.

    Individualismus – Ursprünge und Entwicklung

    Die Auffassung, dass der Staat oder ein anderes soziales Gebilde lediglich die Summe einzelner Individuen bildet, ist eng mit den Leitbildern des Liberalismus und der Aufklärung verbunden. Diese philosophischen Lehren setzen die Freiheit des Menschen – und damit seinen Selbstverantwortungsanspruch – als sein Grundrecht oder sogar Naturrecht voraus. Mit der Aufklärung begannen die Menschen im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich, sich bewusst von den Einschränkungen der absolutistischen Herrschaftssysteme abzuwenden. Die philosophischen Ideen, die hinter dieser gesellschaftlichen Entwicklung standen, stellten das rationale, also vernünftige Denken in den Mittelpunkt. Dadurch wurde es dem Individuum möglich, religiöse, politische und kulturelle Zwänge kritisch zu hinterfragen, was zwangsläufig zu einem Bewusstsein der Freiheit, intellektueller Unabhängigkeit und damit einhergehender Selbstbestimmung führte.

    Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wurden Liberalismus und Individualismus zu den zentralen Bedingungen für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt, genauer gesagt für den freien Wettbewerb sowie wissenschaftliche, philosophische und kulturelle Errungenschaften.

    Dem aufgeklärten, von Philosophen wie Kant oder Voltaire geprägten Individualismus, dem die Gedanken der Gleichheit und Freiheit des Einzelnen zugrunde liegen, steht der romantische Individualismus gegenüber. Diese Auffassung stellt die Distinktion und Differenz, also die Besonderheit jedes Menschen, in den Vordergrund. Das Konzept des romantischen Individualismus wird durch die Begriffe der Originalität, der Einzigartigkeit und in weiterer Folge des Genie-Kults definiert und ist seit den späten Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder in den Vordergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen gerückt.

    Es ist der romantische Individualismus, der den Weg für die heutige Identitätssuche, Ich-Findung und Selbstverwirklichung ebnete. In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich daraus allmählich der Trend der Selbstinszenierung, die bei genauerer Betrachtung in Widerspruch zum ursprünglichen Gedanken des Individualismus der Aufklärung steht.

    Identitätssuche und Selbstverwirklichung – das Streben nach dem individuellen Leben

    Der Individualismus steht der Konformität und dem Kollektivismus gegenüber. Individualisten lehnen es ab, sich gesellschaftlichen Normen unterzuordnen, sondern sind darum bemüht, eigenständige Ideen, Entscheidungen und Denkansätze in allen Bereichen des alltäglichen Lebens umzusetzen. Dies kann sich auf unterschiedliche Aspekte des privaten und beruflichen Umfelds beziehen. Ein Individualist stellt sich grundsätzlich immer dem Mainstream, also den allgemeingültigen Auffassungen, Geschmäckern und Meinungen entgegen.

    Ein wesentliches Merkmal des Individualismus im späten 20. Jahrhundert, der durch die 68er-Bewegung entstand, ist das Streben nach Selbstverwirklichung. Dieses setzt eine unentwegte Beschäftigung mit dem eigenen Ich voraus. Die ständige Suche nach Identität und Originalität führt unweigerlich zu einer gewissen Ich-Bezogenheit, die bis zu einem gewissen Grad narzisstische Züge trägt. Ob das Streben nach Authentizität als schlichte Egozentrik oder als reflektierte und zukunftsorientierte Befreiung beziehungsweise Ablehnung von traditionellen Werten betrachtet werden muss, ist Gegenstand philosophischer Diskussionen. Der Selbstverwirklichungsindividualismus, der sich in den frühen Siebzigerjahren zunächst in alternativen Kreisen etablierte, führte jedoch zu einer gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung, die viele Philosophen heute als das Dilemma des modernen Menschen definieren.

    Individualismus heute – das Unverwechselbare als uniformer Zwang

    Die direkte Folge des im 20. Jahrhundert entstandenen Selbstverwirklichungsindividualismus ist die Vereinzelung des Menschen aufgrund seiner ständigen Beschäftigung mit seiner Innenwelt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass die bewusste Loslösung von traditionellen Werten, in der westlichen Welt insbesondere die Abkehr von christlichen Moralvorstellungen, ein Vakuum hinterließ. Da keinerlei Orientierungshilfen als Ersatz für die verschwundenen Wertesysteme existieren, ist die Selbstinszenierung zum zentralen Lebensideal geworden.

    Die Menschen sind heute angetrieben von dem Bedürfnis, sich in allen Facetten des Lebens zu verwirklichen, ein Bild von sich selbst zu entwerfen und dieses der Welt von seiner besten Seite zu präsentieren. Der moderne Individualismus suggeriert endlose Freiheit im Gestalten und Entfalten der eigenen Persönlichkeit. Dem individuellen Geschmack, Lebensstil und Werdegang sind keinerlei Grenzen gesetzt – theoretisch. Denn bei all den Möglichkeiten und Freiheiten, selbst unwesentliche Aspekte des Alltags meisterhaft zu inszenieren, um sich von jeder Norm abzugrenzen, bleibt die Notwendigkeit, sich anzupassen, um beruflich erfolgreich sowie gesellschaftlich anerkannt und respektiert zu sein.

    Dabei stellt sich stets die Frage, wie viel Individualität und effektvolle Selbstinszenierung die Karriere und das soziale Umfeld tatsächlich vertragen. Dies führt unweigerlich dazu, dass selbst die individuellsten Lebensgewohnheiten und ästhetischen Vorlieben zum Klischee verkommen. Menschen möchten anders sein – allerdings nur dann, wenn genug Gleichgesinnte genauso anders sein wollen. Individualismus im ursprünglichen Sinn einer unverwechselbaren Selbstbestimmung und intellektuellen Freiheit ist in der heutigen Gesellschaft eine Illusion.

    Die meisten Menschen, die gestern daran arbeiteten, besonders und einzigartig zu sein, können heute einer bestimmten Nische zugeordnet werden und werden dadurch unfreiwillig Standard. Wer Individualismus leben möchte, muss Regeln und Trends völlig ignorieren und ist damit alleine – wodurch immer das Risiko besteht, sich sozial zu isolieren.

    Der Selbstverwirklichungsindividualismus führt auch auf gesellschaftlicher Ebene zur Isolation. Wenn jeder einzelne Mensch so sehr damit beschäftigt ist, ein Bild von sich selbst zu entwerfen und medial zu inszenieren, bleiben wenig Zeit, Energie und Motivation für zwischenmenschliches Engagement und familiäre Verpflichtungen. In diesem Zusammenhang kann der moderne Individualismus auch als Ursache für einen gewissen kulturellen Verfall in der westlichen Welt gesehen werden.

    Ohne den Individualismus, wie er im frühen 18. Jahrhundert formuliert wurde, wären kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Errungenschaften nicht möglich gewesen. Wenn das ständige Bedürfnis nach Selbstverwirklichung jedoch zu fehlendem Kinderwunsch, einem Rückgang familiärer Werte sowie Vereinsamung führen, zerstört der Individualismus, wie er heute gelebt wird, langfristig die westliche Zivilisation. Was bleibt, sind Menschen, die glauben, Individualisten zu sein. In Wahrheit können sie ganz einfach in Trendsetter und Nachahmer unterteilt werden – was dabei beiden Typologien fehlt, ist das kritische Hinterfragen von gesellschaftlichen Entwicklungen. Und genau dieses ist eigentlich die Essenz des wahren Individualismus, der auf Selbstbestimmung und freiem Denken basiert.

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